Schweizer Ärzte verschreiben Musuemsbesuche statt Medikamente
In der Schweizer Stadt Neuenburg verschreiben Ärztinnen und Ärzte neuerdings Museumsbesuche statt Medikamente. Das zweijährige Pilotprojekt wird von der Stadt finanziert und kostet rund 10’000 Franken, was für die lokalen Verhältnisse wenig Geld ist. Die Patienten erhalten dabei Eintrittskarten für drei Museen der Stadt sowie den botanischen Garten.
OP-Vorbereitung auf die andere Art
Chefchirurg Marc-Olivier Sauvain nutzt die Museumsbesuche beispielsweise, um Patienten auf Operationen vorzubereiten, wie er erklärt. “Es ist Wunschdenken, dass wir jemanden empfehlen, seine Fitness mit mehr Bewegung zu verbessern”, sagt Sauvain. Der Person ein Ticket für eine Monet-Ausstellung zu geben, animiere sie hingegen eher dazu, aus dem Haus zu gehen und sich zu bewegen.
Das Projekt basiert auf einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation von 2019, der zeigte, dass Kunstbesuche die mentale Gesundheit fördern, Stressfaktoren lindert und das Risiko für kognitiven Abbau, Gebrechlichkeit sowie vorzeitige Sterblichkeit senken kann. Auch eine britische Studie belegte dies mit Zahlen: Bei Personen, denen Museumsbesuche verschrieben wurden, nahmen Arztbesuche um 37 Prozent und Spitaleintritte um 27 Prozent ab.
Auch die Pandemie trug zum Projekt bei, denn die Schliessung der kulturellen Einrichtungen hatte deutlich gemacht, wie essenziell solche Orte für das Wohlbefinden sind
Für jeden investierten Franken können elf Franken gespart werden, heisst es. Eine Marge, die selbst den erfolgreichsten Investmentbankern gefallen würde.
Sich bewegen und den Kopf befreien
Von den 1000 verfügbaren Verschreibungen wurden in kurzer Zeit bereits 350 Musuemsbesuche ausgestellt. Das Programm fokussiert dabei auf bestimmte Leiden wie Depressionen, Mobilitätsprobleme, chronische Krankheiten oder Einsamkeit.
“Kultur trägt dazu bei, dass man sich besser fühlt. Ein Museumsbesuch ermöglicht es, der Isolation zu entkommen, sich körperlich zu betätigen und den Kopf frei zu bekommen”, erklärt Julie Courcier Delafontaine, die für Kultur und sozialen Zusammenhalt zuständige Stadträtin von Neuenburg. "Die Pandemie-Schliessungen haben den Menschen bewusst gemacht, wie sehr sie kulturelle Räume brauchen, um sich wieder als Menschen zu fühlen.”
Auch die körperliche Komponente ist nicht zu vernachlässigen. Museumsbesuche erfordern, dass man sich anzieht, das Haus verlässt, herumläuft und für längere Zeit steht. Für jemanden, der sich auf eine Operation vorbereitet oder mit Depressionen zu kämpfen hat, ist das ein als Kultur getarntes Workout.
Kunstexperten sind nicht ganz überzeugt
Kunst sei aber nicht automatisch mit Gesundheit gleichzusetzen, warnt die Schweizer Kulturjournalistin Gabriele Detterer. Jedes Kunstwerk wirke auf jeden Betrachter anders. Eine friedliche Courbet-Meereslandschaft mag jemanden beruhigen, aber in eine Marina Abramović-Retrospektive zu stolpern, könnte den gegenteiligen Effekt haben.
Die Kunsttherapeutin Denise Huber meint zudem, dass das Programm ausgebaut werden sollte. "Es muss einen bestimmten Rahmen geben”, sagt sie. “Zum Beispiel sollten diese Menschen im Museum andere treffen, mit denen sie sich über das, was sie sehen, austauschen können.” Alleine vor einem Picasso zu stehen, sei noch nicht auotmatisch therapeutisch. Wenn man damit nichts anfangen könne, stehe man einfach vor einer sehr teuren Wanddekoration.
Programm in Grossbritannien und Kanada erprobt
Der Kunstansatz stellt einen grundlegenden Wandel im Verständnis des Gesundheitswesens dar. Anstatt Krankheiten erst zu behandeln, wenn sie aufgetreten sind, wird mit Projekt auch versucht, sie zu verhindern, indem Isolation, Inaktivität und psychische Gesundheit angegangen werden, bevor sie ein medizinisches Eingreifen erfordern.
Ähnliche Programme haben in Grossbritannien und Kanada bereits Erfolge gebracht. In England verschreiben Ärzte regelmässig soziale Aktivitäten und in Montreal wurde ein ähnliches Projekt mit dem Fine Arts Museum durchgeführt.
Weil das Projekt die Erwartungen bisher überschreitet, planen die Verantwortlichen bereits die nächsten Schritte. So sollen auch Theaterbesuche und Tanzvorstellungen verschrieben werden können. "Als Arzt ist es wirklich schön, Museumsbesuche zu verschreiben, statt Medikamente oder Tests, die den Patienten nicht gefallen”, berichtet Chefchirurg Sauvain. Er sage ihnen: “Das ist eine ärztliche Verordnung, die Sie anweist, eines unserer schönen Stadtmuseen zu besuchen."
Teil eines grösseren Projekts
Das Experiment in Neuenburg ist aber mehr als ein Kunstprogramm. Es ist Teil einer fünfjährigen Präventionsinitiative, die auf körperliche Aktivität, geistige Gesundheit und soziale Integration von Senioren abzielt. “Prävention ist das Stiefkind des Gesundheitssystems“, erklärt Gesundheitsdirektor Frédéric Mairy. “Wir sind überzeugt, dass Investitionen in die Gesundheitsförderung das Wohlbefinden der Bewohner verbessern und zur Kostendämpfung beitragen.“ 200’000 Franken kostet die Initiative insgesamt.
Ob der Blick auf einen Monet zur Linderung der Beschwerden beiträgt, wird sich zeigen. Schaden dürfte es kaum, wenn die mindestens 350 Menschen nun mit offizieller Erlaubnis ihren Nachmittag mit der Betrachtung von Kunst verbringen, statt über ihre Probleme und Schmerzen nachzudenken.